Mit Leidenschaft spielen – Selbstbewusstsein gewinnen
Norman und Fränze sind bei Gabriela und István zum Spielabend eingeladen: „Gabriela spielte mit einer solchen Leidenschaft, dass sie, wenn sie gewann, aufsprang und das Gesicht des überrumpelten István mit Küssen bedeckte, wenn sie verlor, hinter sich griff, einer Perlmutvase eine knochenharte Kunststofftulpe entnahm und diese István mit Wucht über den Schädel hieb. Verlor Fränze, reichte ihr Gabriela die Tulpe und forderte sie auf, gleiches mit mir zu tun. Fränze verschonte mich, wie sie mir im übrigen auch die Küsse vorenthielt, wenn sie gewann, … sie verschaffte mir weder das Vergnügen des nachlassenden Schmerzes noch das Vergnügen gesteigerter Zärtlichkeit. Es ging vernünftig bei uns zu … maßvoll.“ [1]
Leidenschaft[2] und Gefühle zulassen
Das Spiel bietet Raum und Chance, die eigenen Emotionen auszuspielen und sich selbst mit allen Seiten kennen- und wahrnehmen zu lernen: sowohl Freude, Begeisterung, Lust als auch Wut, Neid, Machtgefühle … – das alles steckt auch in mir und nicht nur in den anderen.
Im Spiel, das Leidenschaften nicht unterdrückt, kann man sich selbst kennen lernen – Stärken wie Schattenseiten. Wie der Soziologe Thomas Henricks feststellte, haben die Spieler die ungewöhnliche Möglichkeit, den Spielraum nach Belieben zu betreten und zu verlassen, … oder Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die allgemein als spontan gelten. Mit anderen Worten: “Das Spiel erweitert das Gefühl der Freiheit der Menschen, bestimmte Dinge zu tun”[3]. Im Spiel können wir auf phantasievolle und expansive Weise “wir selbst” sein.
Im Alltag werden Leidenschaften und Gefühle oft als deplatziert empfunden. Sachlich bleiben und sich benehmen wird mit Anerkennung belohnt. Kindern wird der Ausdruck von Leidenschaften und Gefühlen zugestanden, aber es wird erwartet, dass sie lernen, „sich zu beherrschen“.
Das Spielbrett vom Tisch fegen, schreiend den Raum verlassen und Türe schlagen, Mitspieler:innen anschreien… manchmal auch übermäßigen Jubel können nur in einem gewissen Rahmen toleriert werden. Leider werden dahinterliegende Emotionen oft nicht ernst genommen und bagatellisiert: „das ist doch bloß ein Spiel“.
Dadurch nehmen Kinder in sich als Haltung auf, Emotionen sind nicht gern gesehen und sie bemühen sich diese zu unterdrücken und „maßvoll“, „vernünftig“ zu bleiben. Dass damit auch ein Aspekt von Menschlichkeit unterdrückt wird und Geist wie Körper Schaden nehmen, merken viele erst in der zweiten Lebenshälfte.
Kinder wie auch Erwachsene spielen auf eine Weise, die den “magischen Kreis” respektiert. Einerseits bringen sie ihre ungestüme Kreativität innerhalb eines Formats mit gemeinsamen Regeln zum Ausdruck und schöpfen daraus Befriedigung, andererseits „spielen sie, um zu sehen, was sie mit der Welt anstellen können“[4]. Das heißt, sie wollen auch von den Folgen überrascht oder begeistert sein, die sie verursachen. Sie prüfen die Veränderungen, die sie herbeigeführt haben und gehen sogar so weit, die Geduld derer, die sie provoziert haben, zu hinterfragen… Dieses „Erleben der Welt“ durch das Spiel ist das Erfahrungsfeld, in das sie eintauchen. Hier werden das Selbst und das Selbstvertrauen geformt und gestärkt. So gewinnen wir Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl.
Selbstbewusstsein gewinnen
Landläufig wird Selbstbewusstsein mit Durchsetzungsvermögen verwechselt. Dabei gilt als selbstbewusst, wer ausgehend von einem (imaginären) Selbstbild sich gegen die Interessen anderer durchsetzen kann. Im Gegensatz dazu meint „Selbst-Bewusstsein“ das Wissen um meine Stärken und Grenzen, meine Gefühle und alles in mir steckt und was ich auch bin.
Mitunter sind unsere Selbstbilder idealistisch positiv überhöht (ich bin der Größte, ich habe immer Recht …) oder unrealistisch negativ konnotiert (ich kann gar nichts, bin nichts wert…). Diese Bilder werden gepflegt und durch diese Brille die Welt betrachtet und bewertet. Das Selbstwertgefühl ist verzerrt und verhindert ein Bewusstsein über das, was tatsächlich an Potentialen und Schwächen in einem steckt.
Wer sich selbst mit seinen Stärken und Schattenseiten kennt, hat es nicht nötig alles Negative auf andere zu projizieren, um sein positives Selbstbild unbeschadet zu erhalten. Das macht es möglich, auch bei anderen Stärken und Schattenseiten zuzulassen und mit ihnen barmherzig zu sein. Das hat Folgen für das Miteinander in der Gesellschaft. Wer sich selbst erkennt und sich als Teil eines Ganzen wahrnimmt, kann dem Anderen ebenfalls einen Platz im großen Ganzen zugestehen.
Gesellschaftliche und politische Dimension
Das führt in eine Gesellschaft, in der es nicht darum geht, sich um jeden Preis politisch durchzusetzen, sondern ein differenziertes Verständnis für das Verhalten der anderen zu zeigen. Wie sähe eine Gesellschaft aus, die einen offenen Diskurs fördert, aus dem „Selbst-Bewusstsein“, wie viel von dem, was bei anderen verurteilt wird, auch in einem selbst steckt?
Fragen zu möglichen Themen des Spielmarktes:
- Welche Rolle spielen Leidenschaften und Emotionen in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und welchen unterstützenden Beitrag kann Spiel dabei leisten?
- Wie kann durch Spielen „Selbst-Bewusstsein“ gefördert und emotional-soziale Kompetenz erworben werden?
- Was ist die Rolle der Pädagog:innen dabei und welche Kompetenzen und Grundhaltungen braucht es dazu?
- Welchen Beitrag kann das Spielen als Erfahrung für das Zusammenleben in der Gesellschaft leisten?
Spielmarktteam Oktober 2022
Thementext als PDF: Mit Leidenschaft spielen – Selbstbewusstsein gewinnen
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[1] Joachim Walther: Ich bin nun mal kein Yogi. Verlag Neues Leben Berlin 1975, S. 48
[2] Unter „Leidenschaft“ verstehen wir einen temporären stark emotionalen Gemütszustand, der zu einem nicht vom Verstand gelenktem Verhalten führt und aus dem heraus ein Ziel angestrebt oder eine Tätigkeit mit Hingabe verfolgt wird. Es ist zugleich ein Ausdruck überströmender Lebensenergie. (vgl. Deutsches Wörterbuch. Enzyklopädie Bd. 27, Brockhaus 1995, S. 2100)
[3] Henricks, T.S. (2008). The nature of play. American Journal of Play, Vol. 1, N. 2, S. 166.
[4] Henricks, T.S. (2011). Play as a pathway of behaviour. American Journal of Play, Vol. 4., N. 2, S. 241.